Was ist nur mit mir los? Beim Schlendern durch niederländische Wohnsiedlungen lässt mich, seit ich ein Kind bin, eine Sache einfach nicht los: die Sache mit den Gardinen. Oder besser gesagt: dass es fast in keinem Haus Gardinen gibt. Das ältere Ehepaar beim Kaffeetrinken, der Vater nach Feierabend beim Zeitunglesen im gemütlichen Ohrensessel oder die Mutter beim Mensch-ärgere-dich-nicht-spielen mit den Kindern. Irgendwie fand ich es immer seltsam, dass man dem Niederländer beim Allerheiligsten zuschauen kann: bei seinem Privatleben. (Dass ich voyeuristisch genug bin und mich für diese Einblicke in den Alltag wildfremder Menschen interessiere, fand ich übrigens hingegen nie seltsam.)

Es gibt die unterschiedlichsten Erklärungsansätze für das Fehlen von Gardinen in niederländischen Häusern, und ich habe mir da in den vergangenen Jahren meine eigene  zurechtgelegt: Der Niederländer zeigt einfach gerne, was er hat. Denn – vielleicht beschäftigt mich diese Sache mit den Gardinen ja auch deswegen – irgendwie habe ich das Gefühl, dass unsere westlichen Nachbarn noch mehr Wert auf ein stilvolles Interieur, auf das Zusammenspiel von Möbeln, Wandfarben und natürlich vor allem Accessoires legen als wir. Und genau das zeigen sie dann auch gerne, es ist vielleicht eine Art ’sehen und gesehen werden‘.

Ein bisschen Landhaus-Stil, ein bisschen Industrial, ein bisschen Upcycling, ein bisschen Vintage und Shabby Chic, aber auch moderne Möbelstücke – die Niederländer verstehen  Stilmixe wie wohl wenig andere und schaffen damit ein Gefühl von Behaglichkeit, das in nordeuropäischen Gefilden als ‚hygge‘ bezeichnet wird. Hier hängt man das Thema nicht so hoch, es heißt schlicht ‚gezellig‘ und muss nicht übersetzt werden.

Abends in größerer Runde beim Wein oder Flaschenbier auf modernen Ledersesseln am alten, naturbelassenen Holz-Esstisch zusammensitzen – der Niederländer genießt die Freizeit gern gemeinsam mit Familie und Freunden und zaubert durch eine originelle und wertige Inneneinrichtung eine echte Wohlfühlatmosphäre. Natürlich fast immer auf dem Tisch: frisch geschnittene Tulpen, oftmals präsentiert in einer auffälligen und ungewöhnlichen Vase. Das alles verrät der Blick durch die riesengroßen Fensterfronten, der manchmal auch für die eigene Wohnungseinrichtung inspirierender sein kann als das Schauen einer der vielen TV-Einrichtungsshows.

Wann ich das alles zuletzt gesehen habe? Am vergangenen Wochenende, nach dem Einkaufsbummel durch Eindhoven, auf dem Weg zurück durch ein Wohngebiet zum Parkplatz. Dieser Bummel übrigens hat mir in noch anderer Weise die Augen geöffnet: Er hat nämlich die Frage beantwortet, wo die Niederländer all die stylischen Beistelltische, die gewagten Deckenlampen und die großen Wandbilder her haben. Denn in den Fußgängerzonen finden sich viel, viel mehr Möbel-, Deko- und Einrichtungsgeschäfte, in denen es weniger Ware von der Stange, sondern mehr Individualität zu kaufen gibt als hierzulande.

Gut, dass es in niederländischen Häusern so gut wie nie Gardinen
gibt – sonst hätte ich das alles wohl nie erfahren.

mle