Zwei auf spannende Weise ungleiche Schwestern übernehmen 2020 die Rolle der beiden Kulturhauptstädte Europas. Immerhin sind beide jeweils drittgrößte Stadt ihres Landes, gemeinsam gehören sie zur EU, und beide liegen am Meer: Kroatiens größte Hafenstadt Rijeka lädt spätestens im Frühjahr zum Bad in der sonnenverwöhnten Adria. Irlands Galway lenkt von seiner bizarren Steilküste am Atlantik aus oft sehnsüchtige Blicke in Richtung Nordamerika. Zum Auftakt des Festjahres verspricht Galways Kreativdirektorin, Helen Marriage, allen Festgästen einen großartigen Spaß – auch wenn es dann regnet wie an 240 Tagen im Jahr und wenn dazu der Wind heult.

Vor allem Rijeka wirft sich mächtig ins Zeug und hofft auf über vier Millionen Besucher. Zehn Jahre nach dem denkwürdigen Kulturhauptstadt-Ereignis im Ruhrgebiet gehen es die kroatischen Gastgeber mit ähnlich wirkendem Elan und großen Ansprüchen wie einst NRW an. Über 600 Kulturereignisse sind fest geplant, 30 Millionen Euro stehen zur Verfügung. Und nach dem offiziellen Auftakt am 1. Februar können sich gerade Rheinländer schon am 23. Februar hier beinahe zuhause fühlen: Dann beginnt der von Venedig inspirierte Karneval von Rijeka, und diesmal sind beim großen Festzug Kostümierte und Geschminkte aus allen bisherigen 60 europäischen Kulturhauptstädten eingeplant.

Die Programmverantwortlichen in Rijeka haben drei Leitthemen für ihre Veranstaltungen vorgegeben. Es geht um Wasser, Arbeit und Migration. Unter dem Motto Wasser verbergen sich alle Fragen nach der Zukunft der Natur, nach neuen Technologien und ökonomischen Modellen zur Realisierung neuer Nachhaltigkeit. Und auch nach neuen Wegen hin zu nachhaltigem Tourismus wird gefragt. Arbeit wird als Menschenrecht definiert. Aber welche Perspektiven bieten sich für eine Arbeitswelt unter postindustriellen Bedingungen, muss es Erwerbsarbeit sein, wird es zunehmend ein Gleichgewicht zwischen kreativen und sozialen Beschäftigungen und der Produktion von Dingen und Dienstleistungen geben?

Um das Thema Migration erlebbar zu machen, definiert sich Rijeka als ‚Stadt des Kommens und Gehens‘. Über die Jahrhunderte haben sich hier Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen niedergelassen, andere sind zu neuen Ufern aufgebrochen. Dabei, so der Anspruch heute, habe man sich zur einer ‚Stadt der Toleranz‘ entwickelt, sei kulturell zu einer ‚Küche der Vielfalt‘ geworden.

Das soll sich im Festprogramm spiegeln, das als Mix aus Musikevents, Theater- und Literaturereignissen, historischen Bezügen, Bildenden Künsten und jeder Menge erstklassiger Kulinarik daherkommt. Dazu gehört ein Weltmusikfestival ebenso wie ein Festival Europäischer Kurzgeschichten, das Gastronomie-Ereignis ‚Porto Etno‘ und ein Fußballprojekt ‚Eine Stadt, ein Tor‘.

Galway, zweieinhalb Autostunden von der irischen Hauptstadt Dublin und anderthalb Stunden von der Grenze Nordirlands entfernt, legt ähnlich gewichtige Ideen in sein Kulturhauptstadt-Programm. Sprache, Landschaft und Migration heißen hier die Leitthemen, die teilweise auch auf die in Irland mit Sorge betrachtete Brexit-Debatte Bezug nehmen. Allerdings kommen die Iren etwas weniger großformatig daher als Rijeka. Anfang Dezember luden sie zur Vorstellung ihres Festprogramms, das insgesamt ähnlich überzeugend, jedoch weniger opulent als an der Adria ausfällt.

Der irischen Sprache sind allein 30 der insgesamt 154 Kulturprojekte 2020 gewidmet. Und dabei werden die unendlich zahlreichen Auftritte der Straßensänger und -musikanten gar nicht mitgezählt, die Galway nach Expertenmeinung zur heimlichen Metropole der irischen Musik erheben.

Migration wird im Kulturhauptstadtjahr als fester Bestandteil der irischen Geschichte und als Humus für europäische Vielfalt bis in die Gegenwart dargestellt. Und die überwältigend raue Landschaft ist ohnehin unübersehbar, so ganz besonders am 17. März, dem irischen Nationalfeiertag. An diesem St. Patricks Day lässt der finnische Lichtkünstler Kari Kola die nahen Connemara-Berge in der Umgebung in der Nationalfarbe Grün erstrahlen. Die wildromantische und sturmgepeitschte Strandgegend von Galway erlebt eine Lesung von Homers Odyssee, natürlich bei jedem denkbaren Wetter.

Galway gilt als besonders junge Stadt, was viel mit der angesehenen lokalen Universität, aber auch mit der heimischen Gastroszene und ihren unendlich vielen Pubs zu tun hat. Auch diese Szene soll im Kulturhauptstadtjahr helfen, Irland in freundlichstem Licht darzustellen. So wie 2018, als Galway bereits als ‚Europäische Region der Gastronomie‘ ausgezeichnet worden ist.

Rijeka oder Galway – Sie haben übers ganze Jahr die Wahl! Wie immer Sie entscheiden: Sie erleben unverwechselbare Teile des großen gemeinsamen Kontinents Europa. Und, wie es Adrian O‘Neill, Irlands Botschafter in London, bei der Programmpräsentation ausdrückte: „Wir brauchen die Kultur mehr denn je“.  Denn sie könne geistige Haltungen ändern und Gemeinschaft befruchten, statt Abgrenzung zu fördern.

Peter Lamprecht