Beim Aufräumen eines Bücherregals fiel mir vor Kurzem ein altes ‚Merkheft‘ vom 2001-Verlag in Hände und weckte Erin- nerungen an die Zeit in den 80er Jahren, in denen mir diese Vokabelheft-großen Sortimentsübersichten über Bücher und Schallplatten (später auch CDs) postalisch zugestellt wurden. Lange vor der Erfin- dung des heutigen Internets war der 2001- Verlag für meine Generation und mich der deutsche Zugang zu einem alternativen Versandhandel für kulturelle und politi- sche Bildung. Es gab auch einen 2001- Laden in Köln auf der Ehrenstraße, in dem ich manchmal nach dem Kauf von Skate- board-Zubehör den noch verbliebenen Rest des Taschengeldes in Büchern und CDs angelegt habe.

Ansonsten war der Ort des kulturellen Austauschs, unsere Informationsbörse und Vorgänger aller heute verfügbaren Dating-Platt- formen die Raucherecke auf dem Schulhof. Täglich, wäh- rend der großen und kleinen Pausen geöffnet, wurde hier das Leben außerhalb der Schule organi- siert. Hier wurden Hausarbeiten gedealt, Fußballbilder getauscht und Beziehungen besiegelt – oder beendet (willst Du mit mir gehen? Ja [ ], Nein [ ], Vielleicht [ ]).

Man verabredete sich im Le Couchon auf der Brucknerallee zu einem heißen Kakao mit Sahne und am Wochenende in der Alt- stadt im Muckefuck. Mobilität war dank Hollandrad kein Thema – der ein oder andere hatte dann auch schon ein Mofa – Hauptsache, man war wie vereinbart um 23 Uhr wieder pünktlich zu Hause. Es gab schließlich Regeln!

Die Raucherecke umhüllte die Aura von Verbotenem und war gelegentlich auch die Ideenschmiede von manch unrecht- mäßigem Gedankengut. Auch wenn ich selbst nie im Leben geraucht habe – ich schwöre! – war dies ein magischer Ort und für unsere Generation der damals 17-Jäh- rigen vor dem Abitur und ein wenig der ‚wilde Westen‘ unserer Oberstufenzeit.

Die nonverbale Kommunikation ideologi- scher Aussagen fand derweil auf unseren NATO-Taschen statt. Diese ehemaligen Bundeswehr-Rucksäcke wurden umfunk- tioniert zu zeitgenössischen Schulranzen und waren somit die Vorgänger der heuti- gen Generation der pastellfarbenen Fjäll- räven Rucksack-Taschen. Die persönlichen Aussagen bezüglich der allgemeinen Haltung zum Leben oder auch des/r der- zeitigen Lebensabschnittsgefährten/in wurden mit schwarzem Edding Stift auf- bzw. übergekritzelt. Neben oder zwischen den favori- sierten Namen von Rock- bands befestigte man 2- Euromünzen große Buttons mit rücksei- tiger Sicherheitsnadel (entspräche heute einem roten oder einem ‚like‘ bei Face- book). Die musikalischen Helden mei- ner Jugend, die es als Button auf meine Schultasche geschafft hatten, waren The Police, Genesis und Depeche Mode. Die politischen Kernaussagen meiner Ansteck- nadeln lauteten ‚Atomkraft Nein Danke‘ (hatten wir gefühlt alle!), ‚No Nukes‘, ‚Make love not war‘ sowie die Friedenstaube von Picasso. Nach einem BAP Live Konzert in einer Rheindahlener Kneipe kam natürlich noch ‚Für usszeschnigge‘ dazu. Warum ich den ‚Legalize Cannabis‘ Button am Parka hatte, weiß ich bis heute nicht – es war einfach cool … Es war jedenfalls eine der schönsten Zeitspannen der Jugend in die- ser aufkeimenden Friedensbewegung und alle waren gut drauf. Der Kölner hätte ge- sagt: „Nä – wat war dat fröher en superjeile Zick“ – und die war es wirklich.

Wir hatten keine Greta Thunberg oder Lui- sa Neubauer, der man freitags mit einem Fähnchen in der Hand hinterherlaufen konnte. Wir brauchten, um auf uns auf- merksam zu machen, uns nicht auf Straßen festzukleben und hatten Respekt vor an- derleuts Eigentum. Wir hatten gleichwohl unsere Meinungen, die wir offen bekun- det und auch im Schulunterricht sachlich erörtert haben. Waren unsere jüngeren Referendariats-Lehrer doch nur wenige Jahre älter als wir selbst. Wir fühlten uns als Gut-Menschen, als Robin Hoods, die auch in den 80ern den Drang hatten, den Verfall der Welt mit besonnener Urteilsfähigkeit zu bremsen.

Hätte ich doch noch die knapp 1.500 Sei- ten starke Umweltstudie ‚Global 2000‘ vom 2001-Verlag, die 1977, in ihrem Erschei- nungsjahr, nicht weniger aktuell gewesen war als zur heutigen Zeit.

Leider haben wir zu dem Thema ‚Verwund- barkeit der Erde‘ in den seitdem vergange- nen 45 Jahren wenig dazugelernt und das Ganze nicht allzu ernst genommen.

Ihr
Gregor Kelzenberg