PRO

Am 20. November beginnt die Fußball-WM in Katar. Bei aller Kritik am Austragungsort darf man sich auf ein tolles Sportereignis freuen

Wir sind sicher: Wenn die Fußball-WM am 20. November angepfiffen wird, dann werden wir alle vor dem Fernseher sitzen. Es ist vielleicht nicht das Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador, das die Massen elektrisiert. Doch schon am nächsten Tag gehen die talentierten Engländer ins Turnier. Die offensivfreudigen Niederländer. Die spielfreudigen Senegalesen und die kraftvollen US-Amerikaner. Eine Fußball-WM ist ein Selbstläufer. Vom Eröffnungsspiel bis zum Finale gibt es eigentlich nur ein gesellschaftliches Thema von Relevanz, und das ist der Kampf der 32 Teilnehmer um den goldenen WM-Pokal. Und ein solch leichtes Thema können wir alle nach drei schweren Jahren voller Corona-Debatten und Ukraine-Krieg gebrauchen.

Wie schneidet die Nationalmannschaft im ersten Turnier nach der Ära Joachim Löw ab? Schafft es Bundestrainer Hans-Dieter Flick, die vielen Talente im DFB-Kader zu einer schlagkräftigen Einheit zusammenzubringen? Bereits am 23. November steht mit dem ersten Spiel gegen die Japaner ein interessanter Auftakt an. Kommt es auf dem Platz zu direkten Duellen der beiden Borussen Jonas Hofmann und Ko Itakura? Dass die beiden mitfahren, scheint ausgemachte Sache – zu wichtig sind die beiden für ihr Team.

Der Borusse Joe Scally wird mit den USA dabei sein, und ganz sicher werden die Gladbach-Fans wieder besonders bei den Spielen der Schweizer mitfiebern: Denn dort steht Yann Sommer im Tor, gibt Nico Elvedi den Abwehrchef – und in Granit Xhaka, Breel Embolo und Djibril Sow sind regelmäßig weitere ehemalige Gladbacher im Aufgebot.

Das zweite der drei Vorrundenspiele Deutschlands ist sicher das schwerste: Es wartet Angstgegner Spanien. Jene Spanier, die noch vor Kurzem 6:0 gegen Deutschland gewonnen haben… Am 1. Dezember dann geht es im dritten Vorrundenspiel gegen Costa Rica ums Weiterkommen ins Achtelfinale. Ja, richtig gelesen: 1. Dezember. Erstmals findet eine WM nicht im Sommer statt, sondern im Winter. Rudelgucken auf der Großbildleinwand im Freibad mit einem kühlen Bier wird es wohl eher nicht geben. Aber warum nicht Fußballgucken bei Glühwein und Spekulatius vor dem Adventskranz? Beim Endspiel am 18. Dezember kann man ja den Weihnachtsbaum schmücken. Und sowieso: Echte Fußballfreaks wollen möglichst viele der insgesamt 64 WM-Spiele schauen. Im Sommer verpasst man das Leben da draußen. Aber im November oder Dezember? Perfektes Fernsehwetter.  Und noch was: Endlich ergibt so ein Deutschland-Schal Sinn – im Sommer hat man sich darin kaputtgeschwitzt.

Es wird wieder eine Schau werden der besten Länder und der besten Spieler der Welt. Frankreich ist dabei mit dem unglaublichen Mbappé. England mit Harry Kane, Phil Foden und Jude Bellingham. Spanien mit Pedri und Rodri und natürlich die stets fabelhaften Brasilianer mit Vinicius Junior oder Neymar. Und dann, ja dann wird diese WM zum letzten großen internationalen Tusch für ein paar ganz besondere Fußballer. Karim Benzema etwa, Robert Lewandowski oder Luka Modric sind alle Mitte 30 – oder aber in Lionel Messi und Cristiano Ronaldo die beiden größten der letzten zehn Jahre. Sie alle wollen es nochmal allen zeigen.

Hach, wenn man das so hört, dann kann sie doch gerne losgehen, die WM 2022. Der Glühwein steht schon auf der Warmhalteplatte.

CONTRA

Diese Weltmeisterschaft kann man nicht genießen – was an den Bedingungen am Austragungsort liegt, an tausenden Toten auf Stadion-Baustellen und an Korruptionsvorwürfen

Wir sind sicher: Wenn die Fußball-WM am 20. November angepfiffen wird, dann sollte man sich Gedanken machen, bevor man den Fernseher einschaltet. Schon die Vergabe der Weltmeisterschaft nach Katar ging nicht mit rechten Dingen zu, und seit jener folgenschweren Entscheidung vor zwölf Jahren reißen die Negativ-Nachrichten aus dem Wüstenstaat nicht ab. Zunächst musste die Fußballwelt die Pläne des Ausrichters und der FIFA hinnehmen, dass die WM im Winter und nicht, wie man es gewohnt ist, im Sommer stattfindet. Aber das war längst nicht das größte Problem.

Vor neun Jahren berichtete der englische ‚Guardian‘ erstmals von Zwangsarbeitern beim Bau der WM-Stadien. Dass bis zur Fertigstellung der Arenen mehr als 6.500 Menschen ihr Leben lassen werden, weil die Arbeitsbedingungen katastrophal, ausbeuterisch und lebensgefährlich sind, weil die Arbeiter teilweise wie Sklaven behandelt werden, ist beschämend, schrecklich und unfassbar.

Das alles nur für ein Fußballturnier? DFB-Manager Oliver Bierhoff wunderte sich jüngst, wie man so ein Großereignis in ein solches Land geben konnte. Und Bundestrainer Hans-Dieter Flick hat jüngst in einem Interview gesagt: „Das ist keine WM für den normalen Fan.“

Die Kritik am Austragungsort, auch aus Deutschland, sagen viele, kommt viel zu spät. Das Turnier wird stattfinden, auch wenn nicht nur einmal ein Boykott der Spiele diskutiert wurde. Allerdings würde man dann auch die bestrafen, für die dieses Turnier der Höhepunkt der sportlichen Laufbahn werden kann: die Sportler. Umso wichtiger, dass diese, wenn das Turnier schon stattfinden muss, Haltung zeigen. Dass es ihnen vielleicht durch Aussagen in Interviews gelingt, dieses großartige Sportereignis von den bedenklichen Zuständen in seinem Austragungsland zu trennen. Dass Homosexuellen Haftstrafen und laut Scharia im Extremfall sogar Todesstrafen drohen. Dass Frauen in Katar längst nicht die gleichen Rechte haben wie Männer. Dass die Pressefreiheit in Katar massiv beschnitten wird. Und dass die voll klimatisierten Stadien mächtig heruntergekühlt werden müssen, damit die Spiele stattfinden können – und das in diesen Zeiten.

Das alles und noch viel mehr sollte man im Hinterkopf haben, wenn man den Fernseher einschaltet, um Fußball zu schauen. Viele Fußballfans haben angekündigt, die WM zu boykottieren und den Fernseher auszuschalten. Ob sie das durchhalten, wenn das Turnier einmal läuft, bleibt abzuwarten. Ein unbeschwertes Zuschauen ist aber leider nicht möglich.

Sven Platen