Geschminkte Gesichter, Fußballbildchen, Deutschland-Duschgel – wir rüsten uns für die EM im eigenen Land. Eine Liebeserklärung

Letztens habe ich mal wieder gemerkt, wie die Zeit rast. Die WM 2006, das Sommermärchen, soll schon 18 Jahre her sein. Unglaublich! Zu präsent sind noch die Erinnerungen an ein Land, das sich nach anfänglicher Zurückhaltung schnell öffnete und sich rundum an sich selbst berauschte. Daran, dass Deutschland als Gastgeberland hervorragend funktioniert hat. Mit tollen neuen Stadien, einer gut funktionierenden Infrastruktur. Mit Fahnen aus der ganzen Welt geschmückten Städten, feiernden Argentiniern, Engländern, Mexikanern und Australiern. Mit einem Jahrhundertsommer. Mit Fans aus Trinidad und Tobago in Kaiserslautern, 20.000 Schweden in Berlin und nicht weniger Engländern in Köln. Und mittendrin wir Deutsche, plötzlich weltoffen, locker und partylustig. Dazu eine Deutsche Nationalmannschaft, die, trainiert von Jürgen Klinsmann, ein ganzes Land in schwarz-rot-goldenen Freudentaumel versetzt hat. Spätestens mit dem 1:0 Vorrundensieg gegen Polen, herausgeschossen kurz vor Schluss durch Borussia Mönchengladbachs Angreifer Oliver Neuville. War! Das! Toll!

Wie vor der WM 2006 kommt die Deutsche Nationalmannschaft, vorsichtig formuliert, auch in diesem Frühjahr 2024 aus einer Findungsphase. Es gibt sportlich Luft nach oben, auch wenn die jüngsten Länderspiele unter Bundestrainer Julian Nagelsmann erfolgreich verlaufen sind. Eine wirkliche Vorfreude auf das EMTurnier in diesem Sommer – erneut im eigenen Land – ist allerdings noch nicht so recht spürbar. Und doch braucht es wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass es schnell wieder losgehen könnte mit einem Sommermärchen 2.0. Denn wenn die Deutschen am Freitagabend, den 14. Juni, um 21 Uhr in München gegen die Nationalmannschaft Schottlands spielen, dann blicken alle schwarzrot- gold-geschminkten Gesichter auf die DFB-Elf. Die 66.000 Zuschauer in der ausverkauften Arena, sicherlich mehrere Millionen beim Public Viewing in den Städten und nicht weniger Menschen bei privat organisierten Grill-Abenden unter Freunden.

Exakt einen Monat lang werden die 24 qualifizierten Teams um die Teilnahme am großen Finale in Berlin kämpfen. Und in diesem Monat wird der Fußball wieder seine wahre Kraft entfalten können: nämlich die, die schönste und wichtigste Nebensache der Welt zu sein. Kein Kaffeeküchen-Gespräch, kein Telefonat, kein Familienfrühstück und kein berufliches Meeting ohne Small-Talk über die Spiele vom Vorabend. Die großen Krisen dieser Welt, sie rücken einen Schritt in den Hintergrund, man darf ein wenig der Wirklichkeit entfliehen und von einem sorgenfreien Sommer träumen.

Auch mit über 40 Jahren wird man Fußballbilder tauschen, sich ins etwas zu enge Trikot zwängen und im Garten die feinsten Doppelpässe zwischen Musiala und Wirtz nachspielen. Man wird Deutschland-Duschgel kaufen, schwarz-rot-goldene Schokolinsen und auch das offizielle Bier zur Europameisterschaft. Alles in der Hoffnung auf den einen, großen Moment, der es anknipst. Das Sommermärchen 2.0.

Sven Platen