Putzig und historisch anmutende Fassaden, Fensterbänke und Balkone prall bewachsen mit leuchtenden Blumen. Terrassen und Gärten der Ausflugslokale und Restaurants rund um eine malerische Bucht ebenfalls eingebettet in ein Meer von Blüten – das ist der erste Eindruck von Honfleur in der Normandie. Das malerische Örtchen vor den Toren von Frankreichs zweitgrößter Hafenstadt Le Havre wirkt, als wäre es aus einem Bild aus der großen Zeit des Impressionismus entsprungen. Kein Wunder, denn hier haben sich damals etliche der großen Maler inspirieren lassen. Ein Städtchen in der Seine-Mündung als quasi unsterbliches Maler- und Fotografenmotiv – auch das ist ein architektonisches Konzept. Und zwar eines, dessen Außenwirkung sich an Besucher- und Umsatzzahlen messen lässt. Honfleur steht auch in dieser Hinsicht in voller Blüte.
Museale Konzepte nach der Art von Honfleur finden sich 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges allerdings eher in der Minderheit. Auch wenn sie – wie beispielsweise in Münster gleich nach dem Krieg mit der Rekonstruktion des historischen Zentrums – durchaus beeindruckend gelungen sind. Ebenso wie erst kürzlich in Frankfurt die neue Version der historischen Altstadt.
Wer aber Beispiele für neue, mutige und in die Zukunft weisende Architektur- und Stadtkonzepte sucht, kann durchaus auch in Europa fündig werden. Allerdings sind wir in Deutschland dabei eher zweite Sieger. Selbst die größte NRW-Stadt Köln atmet noch das Klein-Klein der schnellen und schmucklosen Bauweise aus den 1950er Jahren, man wartet regelrecht sehnsüchtig auf den großen Wurf der Architektur.
Zwei europäische Nachbarn, im Krieg ähnlich massiv zerbombt wie Köln, Essen oder Münster, sind einen anderen Weg gegangen: Le Havre, der große Nachbar von Honfleur, hat es dabei zu weltweiter Anerkennung gebracht. Und Rotterdam, gesäumt vom größten Hafen Europas, gilt heute zugleich als Europas heimliche Hauptstadt zeitgenössischer Architektur.
Der erste Blick auf das Zentrum der bedeutenden Hafen- und Industriestadt Le Havre wirkt ernüchternd: Betonfassaden, soweit das Auge reicht. Erst der zweite Blick offenbart die Leistung dahinter. Gezählt 132 Bombenangriffe hatten in den Kriegsjahren zuvor die ehemalige Innenstadt komplett vernichtet – allein am 5. und 6. September wurden 12.500 Gebäude zerstört. Dann überzeugte der Architekt Auguste Perret gleich 1945 die neuen Autoritäten mit einem einzigartigen Konzept: Er plante ein Zentrum aus einem Guss, getönter Beton außen, lange Straßenachsen und Boulevards, schmucklose Häuserreihen mit Kolonnaden – und eine einzigartige Kirche. 60 Architekten gehörten zu Perrets Team, und schon 1954 war das Werk weitgehend vollendet.
Bis heute bleibt das Ergebnis diskussionswürdig – aber 2005 wurde Perrets Stadtzentrum ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen, als einziges komplettes europäisches Stadtensemble aus dem 20. Jahrhundert. Nur Brasiliens aus dem Nichts konzipierte Hauptstadt Brasilia spielt bislang weltweit in der gleichen Liga.
Le Havre erschließt sich dem Besucher eher auf den zweiten Blick, am ehesten beim ausgedehnten Spaziergang. Da wirkt dann plötzlich vor allem die äußerlich schon alles überragende Kirche St. Josephe wie ein zu Herzen gehendes Kunstwerk. Statt, wie sonst gewohnt, an einer Außenseite des Kirchenschiffs, thront der 107 Meter hohe Kirchturm in der Mitte über dem Kirchenraum. Tausende Glasbausteine sind rundum angeordnet und tauchen Turm- und Kirchenbesucher gemeinsam in ein feierlich anmutendes bläuliches Licht. Wenn dazu noch die Orgel in wahrhaft unglaublicher Akustik erklingt, ist die spirituelle Atmosphäre unvergleichlich.
Größe zählt auch in Rotterdam. Aber längst nicht nur die äußeren Maße, noch schwerer wiegt die Fülle neuer, mutiger Formen. Von der futuristischen Markthalle, die auch ein Wohn-Ort ist, haben wir im Urbano Magazin erst kürzlich berichtet. Aber sie ist längst nicht das einzige bemerkenswerte Nachkriegsbauwerk in der Stadt.
Rem Koolhaas ist der berühmteste Name aus der großen Zahl bedeutender Architekten, die seit 1945 aus einer puren Trümmerwüste eine Stadt entwickelt haben, die wie Humus auf den architektonischen Ideenreichtum wirkt. Gleich gegenüber dem neuen Hauptbahnhof wartet schon der Millennium-Turm, der an das Empire State Building erinnert. Um den Titel des höchsten Turms in den Niederlanden herrscht anhaltender Wettbewerb in Rotterdam: Erst war es das Delftse Poort, dann der Maasturm, und nun wird 2020 der neue Zalmhafen-Turm mit seinen 221 Metern den Titel übernehmen.
Als ungewöhnliches Bürogebäude lockt regelmäßig auch De Brug (Die Brücke) die Fotografen an – ein fast schwerelos leicht wirkendes, weit gespanntes Gebilde aus Beton, Stahl und Glas, das in 25 Metern Höhe quer über eine historische Fabrik gespannt wurde und das, in Abendstunden erleuchtet, strahlt wie ein Juwel. Ein weiteres Highlight, die berühmte historische Van Nelle-Fabrik, hat es bis ins UNESCO-Welterbe geschafft.
Weltstadt-Flair verdankt Rotterdam der weitgespannten Erasmusbrücke über die Maas ebenso wie dem Toren Op Zuid. Dieser Wolkenkratzer ist mit einer Matrix aus hunderten grünen LED-Lämpchen ausgerüstet. Wohnen in Rotterdam wird auch in Würfelform praktiziert, und alle Attraktionen kann man im Nieuwe Institut Rotterdam studieren ebenso wie in der von Stararchitekt Koolhaas entworfenen Kunsthal. Erkundungen bieten zudem geführte Architektur-Rundfahrten. Und dabei bleibt die Entwicklung in Rotterdam nicht stehen. Einer der Zukunftstrends lautet hier: Wohnen auf dem Wasser. Wie das geht, lässt sich besonders leicht in der Nachbarmetropole Amsterdam praktisch erproben: Zahlreiche Anbieter machen dort den Weg frei, wenn Sie als Urlauber ein Hausboot auf Zeit mieten möchten.
Von den Wohntrends der Nachkriegszeit und den Ausblicken auf die Zukunft zurück zu den Anfängen: Kaum sonst in Europa lassen sich Wohn- und Lebensumstände unserer Vorfahren auf so engem Raum und ähnlich eindrucksvoll nachvollziehen wie in Bryggen, dem historischen Hafenviertel in der norwegischen Hafenstadt Bergen.
Die heute noch 61 schmalen bemalten Holzhäuser markieren ein Stadtquartier, das 1343 entstanden ist. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs trug es den vollständigen Namen ‚tyske bryggen‘ – ‚deutsche Brücke‘. Es entstand als einstiger Außenposten der deutschen Hanse. Zwar brannte das gesamte Viertel 1712 nieder, doch es wurde in alter Form wieder neu aufgebaut und seither erhalten. Kleine Handwerker-Lädchen, Gastronomie und Museen sind dort heute untergebracht – die Enge und die Einfachheit des Alltags aus der Hansezeit lassen sich hier zurückverfolgen.
Auf den zweiten Blick kommt Bewunderung auf für die Offenheit der Menschen in der alten Zeit. Die Europäische Union, nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls begonnen als Handelsgemeinschaft, gerät mit dem Brexit aktuell ins Wanken. Die übernationale Gemeinschaft der Hanse dagegen hat 400 Jahre überleben können. In Bergen lebten Norweger und Deutsche friedlich mit- und nebeneinander. Die einstige Hanse-Metropole Lübeck ist bis heute den Freunden in Bergen verbunden, die große Hansestadt Rostock ist offizielle Partnerstadt von Bergen. Vielleicht Vorbilder für den Zusammenhalt sogar im Europa der Zukunft?
Peter Lamprecht